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Kunstpreis des Landkreises Augsburg

Auszug aus der Begründung der Jury zur Kunstpreisverleihung 2022

Als „klassische“ Malerin mit eigenem Stil und entsprechenden Bildlösungen steht auch das Oeuvre von Andrea Sandner für malerische Klarheit, Eigenständigkeit und ein trotz aller Erfahrung erkennbar auszumachendes Potential an weiterer Entwicklungsfähigkeit. Andrea Sandner lehrt die Betrachtenden das langsame, innehaltende Hinsehen. Waren frühe, zu Beginn der 1990er Jahre entstandene Bilder noch figurativ-abstrahierend an eher expressive Vorbilder angelegt, so hat sie über Jahrzehnte hinweg mit Ruhe und Kontinuität eine immer gegenstandsfreiere, den Entstehungsprozess selbst in den Mittelpunkt rückende Malerei entwickelt.
In den Jahren seit 2002 zeigt sich das in architektonischen Körpern und Strukturen, in denen schon Streifen und Linien und monochrome Farbflächen auftreten: Sie erscheinen hier als diffuse Horizonte, als Durchblicke oder Fassadenapplikationen.
In ihren jüngsten, 2020/22 entstandenen Bildern, hat sich die Linie vollends befreit und tritt als gemalte Farbspur in den Blick, die keine Geschichte erzählt außer der ihres eigenen Daseins auf der Bildfläche: Andrea Sandner malt Streifen, sie verwendet sie nicht nur. Sie setzt Linie an Linie, gibt jeder von ihnen ihr Eigenleben, das nicht dazu dient, Anderes darzustellen. In den Bildern der Künstlerin geschieht aber noch etwas Weiteres: Die Nachbarschaft der Streifen zueinander, ihr dicht an dicht aneinander Gesetztsein ergibt eigene Kompositionen, die mit intuitiv sicherem Gefühl Farbklänge erzeugen – regelrechte Farbakkorde, die ihren eigenen visuellen Rhythmus aufbauen. Dabei wirken Sandners Bilder sowohl einzeln, als auch gemeinsam orchestriert als kombinierte Farbtableaus an der Wand. Man kann sie gewissermaßen als gemalte Meditationsfelder lesen, die eine stille Melodie erzeugen, wenn der Blick unaufgeregt und ohne Ablenkung über sie schweifen kann. Der Wunsch nach konzentrierter, ruhiger Wahrnehmung der Welt um uns, dem wir so selten nachkommen können, wird in ihren Bildern Wirklichkeit.


Augsburg, 26. September 2022
Dr. Mechthild Müller-Henning
Harry Meyer
Dr. Thomas Elsen

Einige Streifzüge, horizontal, vertikal

Wenn die Welt unserem unberührten Auge als chaotische Menge von Sinneseindrücken begegnet, dann hilft sich das Gehirn mit elementaren Rastern, mit Punkten, Linien, Streifen und Flächen, um erste Ordnung in die wilde Wahrnehmung zu bringen. Streifen sind demnach Elemente unseres Augen-Alltags, aber eben auch gestalterische Elemente von Kunst. Aus der Vogelperspektive erscheinen uns die Felder und Wiesen als Flächen und Streifen. Und was ist das blaue Band, das der Frühling durch die Lüfte flattern lässt anderes als ein Streifen aus Sehnsucht, vielleicht ohne definierte Kanten und Ränder, aber doch ganz anders als der Kondensstreifen im flüchtigen Übergang zwischen Aggregatzuständen. Nicht nur Rilkes Panther, der hinter tausend Stäben keine Welt sah, auch andere haben ein zwiespältiges Verhältnis zu Streifen. Vertikale Streifen machen angeblich dick oder auch dünn (je nach Psychologenschule), aber nicht die Streifen sind schuld, das Denken über Streifen wäre anzuklagen.
Seit semiologische und strukturalistische Denkformen zur Grundausstattung bei der Suche nach Erkenntnis gehören hat sich die Welt von einer Welt der Phänomene in eine der Zeichen verwandelt, aus der Welt wurde ein Text. Und wenn die Rauchwolke als indexikalisches Zeichen eines Feuers zu lesen ist, dann ist der Zebrastreifen als Markierung aus dem Geist bürgerlichen Sicherheitsdenkens zu lesen, Todesstreifen als Zeichen des in Auflösungsangst erstarrten Staates, Polizeistreifen als Dominanzgeste der Exekutive, Nadelstreifen als corporate design der alten Eliten. Und der Streifen selbst? Nach Gertrude Stein könnte man trotzig sagen: der Streifen ist ein Streifen ist ein Streifen. Aber die hübsche verbale Geste verschaftt einem nur eine kurze Atempause. Schon erinnern wir uns an Streifen von Sean Scully, minimal und opulent zugleich; an Streifen von Daniel Buren, in jedem Fall 8,7 cm breit; Streifen von Agnes Martin, so fein und zart und doch entschieden auf der Suche; Streifen von Barnett Newman, Frank Stella, oder Ellsworth Kelly. Und natürlich Gerhard Richter. Und so weiter.
Sind Streifen abstrakt? Nein, Streifen sind Streifen. Wie immer in der Kunst, bedeutet nichts irgendetwas, bevor ihm nicht eine Bedeutung zugewiesen ist, mehr oder weniger willkürlich, wie jedem Zeichen per Vereinbarung ein Signifikat zugeordnet wird. Streifen zu malen, das erscheint manchen als einfache Art der Verteilung von Farbe auf einer Leinwand. Als Daniel Buren zwischen 1960 und 1970 mit seinen Streifen international auftrat, da schien für manche Kritiker wie Betrachter das Ende der Kunst nah. Was soll daran noch Kunst (Handwerkskunst) sein, nur immer gleich breite Streifen in maschinellem Farbauftrag nebeneinander zu reihen. „Das kann jeder“, das Premium-Argument der Banausen, war schnell bei der Hand, wurde und wird aber weder dem konzeptuellen Ansatz Burens noch gestisch malenden Künstlern gerecht. Beim Malen von Streifen (und nicht nur dort) ist es wie bei einer Improvisation im Freejazz: der erste Ton mag frei sein (ist er natürlich nicht, denn der Musiker bringt sein ganzes Leben, seine Erfahrungen, seine Musikalität mit in diesen ersten Ton), aber schon der zweite ist nicht mehr frei, denn er bezieht sich auf den ersten, setzt sich in Kontrast und Stimmung und Präsenz gegen den ersten; und der dritte und der vierte und alle weiteren? Mit jedem Schritt wird der Klang vielschichtiger und das Anfügen neuer Elemente wird immer diffiziler; schließlich die Übermalungen, die zur syntagmatischen noch eine paradigmatische, in die Tiefe gehende Achse einführen. Wem das noch nicht schwierig genug ist, der mag noch die Lichtverhältnisse einbeziehen, den individuellen Pinselstrich, das Trocknungsverhalten der Farben, nicht zu vergessen die persönliche Stimmung mit ihrer Auswirkung auf Sehkraft und Sehlust, das Wetter, die Tagesform. Wie man sieht, kann ein Bild aus Streifen ein unausdenkbares Objekt sein und werden.
Andrea Sandner hat ein Werk geschaffen, das nicht thematisch auf Streifen oder geometrische Muster beschränkt ist. Architekturmalerei, Fotografie, übermalte Fotografie, Zeichnungen oder Grattagen sind gleichberechtigte Stationen in ihrem Schaffen. Aber in letzter Zeit sind die Streifen ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt. Wobei gleich festgehalten werden muss: Ihre Streifen sind gar keine. Streifen sind eher eine umgangssprachliche Kategorie, bezeichnen eine elementare Form. Für die Künstlerin sind diese Streifen jedoch Pole oder Horizonte, je nach Ausrichtung. Pole sind Kraftpunkte, Kraftfelder, anziehend, abstoßend, mehr oder weniger spürbar für natürliche Organismen. Und die Horizonte, von denen es so viele gibt wie menschliche Augenpaare: Jeder orientiert sich am Horizont, aber keiner war je dort. Für Maler, die eine Zentralperspektive konstruieren, ist der Horizont der Ausgangspunkt für alle weiteren Linien. Pole und Horizonte sind geistige Linien, gedachte Linien; sie sind das imaginäre Ziel von Reisen auf Leinwand und Papier.
Andrea Sandners Streifen sind energetisch aufgeladene Formen. Mit kräftigen Farben in die Welt gesetzt, nicht verzärtelt, verwässert, verweicht. Ihre Streifen sind keine Chiffre sondern je ein Satz, keine Andeutung sondern Diktum. Bis vor kurzem hat sie ausschließlich Acrylfarben verwendet, die sich besonders etwa für Hard-edge-Malerei und deren scharfe Kanten eignen. Andrea Sandner hat die Möglichkeiten der Acrylfarben ausgiebig erforscht und damit auch sanfte und unscharfe Übergänge erzielt. In jüngster Zeit hat sie ihre malerischen Möglichkeiten noch erweitert, indem sie Ölfarben verwendet, mit denen sich ganz andere Schichtungen, noch feinere, durchscheinendere Überlagerungen herstellen lassen. Das ist nicht als Überwindung früherer Positionen und Fertigkeiten zu sehen, sondern als Erweiterung des Repertoires. Aber nicht, dass einer denkt, die Subtilität der Mittel und die Kompliziertheit der Verfahren seien die notwendigen Voraussetzungen für die Qualität der Kunst: Andrea Sandner kann auch anders: die Horizonte sind mit schlichten Faserstiften gezeichnet; nicht die Wahl der Waffen macht die Kunst, sondern die Ausführung und die Idee.
Wenn die Künstlerin einen Streifen setzt, dann werden andere Streifen nicht gesetzt. Jeder Streifen ist zuerst ein singuläres Argument, eine Tonwert in einer Skala, eine Abgrenzung zur freien Fläche hin oder als Gegengewicht zu anderen Streifen, schon vorhandenen oder zukünftigen. Hier bin ich, dort bist du. Wir grenzen aneinander, wir sind nicht gleich, wir sind einander vielleicht ähnlich. Wir stehen nebeneinander. Wir pochen auf unser So-Sein, unser Anders-Sein und überhaupt: auf unsere Eigenheit. Wir sind so frei in jeder Weise zu koalieren. Wir drei gegen die anderen. Wir fünf grünen, gegen die sieben blauen. Vielleicht berühren wir uns am Rand, vielleicht überschneiden sich unsere Kanten an einigen Stellen, vielleicht ertasten sich die ausgefaserten Ränder, überlagern sich unsere Flächen; Vielleicht findet der eine über dem anderen seinen Platz, vielleicht wird einer in Teilen überdeckt, vielleicht schimmert der untere Streifen durch und verändert seine aber ebenso gut auch die Farbe des oberen; vielleicht, oder eher: gewiss entsteht dadurch eine Nuance, die kein Streifen je allein verwirklichen könnte. Während die Streifen ihre inneren Spannungen ausleben, unternehmen die Betrachter Streifzüge. Etwas zu streifen meint: nicht ganz getroffen, vorbeigeschrammt. Was beim Schützenverein ein Fehler wäre, erweist sich auf dem Feld der Kunst als Gewinn: der bewusste Blick auf den Rand, in die Grauzone, ins Grenzland, wo sich die Dinge gegenseitig erhitzen, wo Reibung entsteht, wo die Phänomene aufeinander reagieren, wo wir mit den Dingen in ein lebendiges Verhältnis kommen, wo Resonanz entsteht.
So gesehen ähneln die kommunizierenden Streifen der Suche nach Identität. Oder lieber im Plural: Identitäten. (Manche glauben, man könne sie wechseln wie einen schlecht sitzenden Anzug, ein aus der Mode gekommenes Kleid.) Die Suche nach Identitäten verstehe ich ausdrücklich nicht als Suche nach einem abgeschlossenen Etwas und anschließender Erstarrung, nicht als herbeigesehnte Etablierung einer festumrissenen Grenze nach außen, sondern als permanenten Versuch sich an ständig wechselnde, labile, lebendige Grenzen anzupassen, anzuschmiegen, in einer niemals endenden natürlichen Bewegung. Diese Suche ist keine Zwangsaufgabe, keine Expedition zur Eroberung fremder Kontinente. Zwischen Polen und Horizonten darf man spielen. Die Farbstreifen zeigen in gewisser Weise das Bild eines vielschichtigen Ichs, einer bunten Gemeinschaft, einer vielfältigen Gesellschaft, ein utopisches Bild. Aber die Streifen sind eines gewiss nicht: ein Kommentar zur gesellschaftlichen Lage. Eher eine Aufforderung, vielleicht im Sinne Ernst Blochs: „Man ist mit sich allein, Mit den anderen zusammen sind es die meisten auch ohne sich. Aus beidem muß man heraus.“
Andrea Sandners Pole und Horizonte sind Anschauung von Denkschritten, eine visualisierte Gefühlsbewegung, eine Bild gewordene Innenschau.

Wolfgang Mennel

aus: pole und horizonte, 2022

edition-kanu, ISBN 978-3-9824369-1-3

Katalog zur Ausstellung im Künstlerhaus Marktoberdorf, 2004
ISBN 3-928691-42-2

Andrea Sandners gemalte Architekturen

Andrea Sandners gemalte Architekturen wirken kühl. Jeglicher Individualität beraubt, auf formale Grundelemente reduziert, stehen sie da – als habe sich eine Anatomin zum Wesentlichen eines Objektes vorgearbeitet. Hinweise auf Zeit, konkreten Ort oder Nutzung der jeweiligen Gebäude fehlen. Die unfertigen Rohbauten am Meer, die Fabrikfassaden ohne Zutrittsmöglichkeit, von Gebrauchsspuren befreit, verschließen sich der raschen Annäherung. Doch der scheinbaren Nüchternheit und Klarheit der Komposition steht die Wirkung der Farben entgegen. Die unterschiedlichen Farbklänge, aus derselben Grundfarbe gemischt, werden auf den ersten Blick als angenehm empfunden. Feine Abstufungen legen sich besänftigend auf die harten Formen, und trotzdem stellt sich bei der Betrachtung Verunsicherung ein.

Wie im "Haus am Meer, rot" eine als Wasser lesbare Horizontale in dunklem Rosa auf einen ockerfarbenen Strand trifft, erzeugt Unbehagen. Die Art, wie sich die in unterschiedlichen Brauntönen dastehenden Pfeiler des Gebäudes gegen einen penetrant zartrosafarbenen Himmel abgrenzen, vertreibt die anfängliche Urlaubs-Assoziation von wohliger Abendstimmung im Süden. Irgendetwas scheint hier nicht zu stimmen. Der vordergründig einfache Aufbau aus wenigen, klaren Farbflächen entfaltet sich als vielfach abgestuftes, kühn kalkuliertes Geflecht aus farblichen Nachbarschaften. Fast wünscht man sich zwischendurch einen reinen Grundton zur eigenen Orientierung. Aber das liegt nicht in Sandners Interesse. Gerade die Zwischentöne und Übergänge sind ihr ein Anliegen.


Den Bildern liegen zwei zeitlich versetzte Aneignungsprozesse zugrunde. Die Malerin sucht sich ihre Motive mit der Kamera. Sie photographiert Parkhäuser, Industriebrachen, unbeachtete Abseiten oder Hinterhöfe mit deren oft unstrukturierten Ansammlung an Nutzbauten. Ihr forschender Blick gilt dabei nicht der morbiden Ästhetik verfallender Gebäude oder der beredten Leere kahler Beton-Orte. Sie verweigert ihren Vorlagen solch erzählerische Qualitäten und nimmt ihnen die Spuren gelebten Lebens. Ihr Interesse gilt der harten, formalen Vorgabe.

Derart skelettiert und bereinigt, setzt die farbliche Umformung der Motive ein. Der Raum als feste Größe wird aufgelöst. Die präzis kalkulierte Abgrenzung einzelner valeurs gibt den Architekturen ihre Wirkkraft und Spannung. Die Farben nähern sich sorgfältig moduliert einander an, um sich gleichzeitig - nur geringfügig anders gemischt - vehement abzustoßen. Da die Bildoberflächen in Acryl mit ihren kaum sichtbaren Arbeitsspuren zurücktreten, rücken die einzelnen monochromen Flächen als Hauptakteure in den Vordergrund. Kaum wahrnehmbare Übergänge, Schattenspuren, halten die Kompositionen in Bewegung. Es entstehen Assoziationsräume, die sich von den ursprünglichen photographischen Vorlagen vollständig entfernt haben.

Sandners Arbeit in Serien dient ihr dazu, die Vielschichtigkeit in der Realitätswahrnehmung deutlich zu machen. Von jeweils derselben Vorlage ausgehend, schafft sie durch die Veränderung der Farbstimmung völlig unterschiedliche Raumbilder. Der konkreten Situation nähert sich die Malerin an, indem sie Ideen von ihr auf die Leinwand bringt.

Ich genieße den Eintritt in Andrea Sandners Architekturen, deren Befreiung von inhaltlichem Ballast, die Leere. Die Entwürfe möglicher Realitäten kann ich mit großer Freiheit durchwandern und verliere mich trotzdem nicht im Nichts. Sandners Räume sind mir vertraut, genauso vertraut wie der Parkplatz samt Tiefgarageneinfahrt hinter dem Supermarkt, an dem ich große Einkäufe für die ganze Woche tätige. Vertraut wie die Straße parallel zu den Schienen jenseits des Bahnhofes, wo Fabrikverkauf, Pommes-Bude und Schrottplatz mir ein schaurig-wohliges Gefühl von Urbanität vermitteln. Ähnlich wie an solchen städtischen Un-Orten des Übergangs ohne gewollte Ästhetik, hat die Sehnsucht nach Behaustheit gerade in Sandners kühlen Architekturen ihren Raum.

Birgit Höppl